
Einige Vorbemerkungen: Mit heutigem Wissensstand eine möglicherweise mangelhafte oder ungenügende Vorbereitung für diese größte Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg zu diskutieren scheint mir billig und anmaßend. Bei den gegebenen Unsicherheiten über die Erfassung und Bewertung der Ausgangslage widerstrebt es mir aber genauso unangebrachte Weltuntergangsprophezeihungen aber auch Zukunftsprognosen über mögliche Szenarien „durch die rosarote Brille“ für die Zeit nach der Krise abzugeben. Werden wir im Rückblick in 2-3 Jahren eine Reihe massiver disruptiver Veränderungen oder gar eine große Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft erkennen? Mir schiene es als Scharlatanerie hier gesicherte Einschätzungen zu wagen (aus den Chaoswissenschaften kennen wir ja die „Sensitivität veränderter Zustände in komplexen Systemen von den Ausgangsbedingungen“ nur allzu gut)!
Das „V U K A Scenario“ (aus frei flotierender Gemengelage von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambivalenz) und die dringende Forderung nach gleichzeitiger Resilienz und Robustheit in Wertschöpfungsketten hat das letzte Jahrzehnt in den Logistikwissenschaften besonders geprägt! Daneben war eine päjorative Unterbewertung des Menschen in der Logistik neben der hybriden Überbetonung der Megatrends „Vernetzung“ und „Digitalisierung“ deutlich spürbar! Volatilität und Unsicherheit haben sich wegen der unvorhersehbaren Auswirkungen vielfältig als disruptiv hochstilisierter Technologien noch weiter hochgeschaukelt! Die ständig komplexer werdenden Handelsstrukturen bei gleichzeitig zunehmenden Risiken in globalen Supply Chains sowie nicht zuletzt makroökonomische Schocks haben die Formulierung klassischer Unternehmensstrategien oft überfordert! So musste zum Beispiel das bekannte Planungstool „Szenario Trichter“ zwischen best und worst case dermaßen aufgespreizt werden, dass eine sinnvolle Nutzung kaum mehr gegeben war! Die Ausgestaltung von „Resilienz“ zwischen Eintrittswahrscheinlichkeit und Reaktionsgeschwindigkeit wurde zwar einhellig als idealtheoretischer Königsweg postuliert, dem aber häufig die Internalisierung und damit wirksame Umsetzung in die Unternehmensrealität versagt geblieben ist.
Was mir aktuell aus dem Blickwinkel der Logistikwissenschaft besonders auffällt:
- Dass die Automotivindustrie, anerkannter Benchmark und unangefochtener Vorreiter globalisierter hochkomplexer Supply Chains mit „Six Sigma“- Qualitätsanforderungen und „Just in Sequence“ orientiertem Zeitmanagement als erste Schlüsselbranche die Produktion eingestellt hat (zwischen humanitätsgetriebener Sorgfalt und Verantwortung für die Mitarbeiter oder Vorsorge vor einem Kollaps der extrem arbeitsteiligen weltweiten Wertschöpfungsketten?)
- Die erstaunliche Robustheit der klassischen Transportmodi und Nahversorgungsstrukturen bei gleichzeitiger Besinnung auf die Aufrechterhaltung der überlebensnotwendigen Infrastruktur und (durchaus berechtigt) Hochstilisierung der systemerhaltenden Mitarbeiter (die sich nicht in die „sichere“ Heimarbeit als „Cocoon“ für uns Krawattenträger zurückziehen können) zu „Helden der Arbeit“!
- Die enorme Elastizität von Handelsunternehmen im Umstieg auf des E-Commerce Vertriebs Kanäle (aus der Not eine Tugend zu machen versuchend?) und die Aufnahmefähigkeit der auf e-logistics spezialisierten Logistikdienstleister (mit teilweise sozial und arbeitsrechtlich grenzwertigen Konzepten?)!
- Eine hochgradige Überforderung der europäischen (und auch so mancher nationalstaatlichen) Institutionen beim Aufrechterhalten der dringend erforderlichen Durchgängigkeit der Logistiksuprastruktur um den überlebensnotwendigen Leistungsaustausch und überregionalen Güterverkehr abzusichern!
Der Logistikforschung stehen in der Zukunft spannende Aufgaben bevor wenn ein „Normalzustand“ (auf welchem Niveau auch immer) wiederhergestellt sein wird.
Als unternehmerischen Imperativ für die nächste Zukunft sehe ich keinesfalls den (in dieser Situation für mich obszönen) Verweis auf Schumpeters „schöpferische Zerstörung“, sondern den dynamischen Unternehmer (ebenfalls auf Schumpeter zurückgehend) der knappe Ressourcen kreativ und innovativ kombiniert und (nach Heinz v. Förster) stets trachtet, so zu handeln dass neue Möglichkeiten entstehen.
Für uns Logistiker, sei es in Produktion, Handel oder Dienstleistung werden sicher die folgenden Kardinaltugenden gefragt sein:
- Agilität im Denken und Handeln
- Robustheit und emotionale Stabilität
- Logistik als gleichwertige „high tech“ wie auch „high touch“ Disziplin
- Mut zu Experimenten mit unsicherem Ausgang bei Bodenhaftung und Pragmatismus in den Kernprozessen.
- Abbau von durch bürokratisch-hierarchische Strukturen verursachte unerwünschte Binnenkomplexität indem die Organisation durch verstärkte Elemente einer Vertrauensorganisation weiterentwickelt wird
- Einführung verstärkter „Collaboration“ zwischen Wertschöpfungspartnern (Benchmark ECR bzw. Advanced Logistics Partnership)
Nach dem Verfassen dieses Beitrages ist mir die aktuelle Herausforderung für die Logistik immer noch nicht ganz klar geworden aber ich hoffe, dass es mir gelungen ist meine Problemsicht auf ein höheres Niveau hochzuschrauben.
Fritz Macher
Gründungs- und Ehrenpräsident der BVL Österreich
Nach 50 Jahren Unternehmertum im Logistikbereich immer noch mit Begeisterung bei der Sache
Nach 40 Jahren Lehrtätigkeit im Logistikbereich immer noch neugierig und hungrig nach vertiefter Erkenntnis; wissend, dass ich immer noch viel zu wenig weiß.


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Sehr geehrter Herr Macher!
Zu den Stichwörtern Krise, Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Robustheit kann ich Ihnen Nassim Nicholas Taleb und sein Buch „Der schwarze Schwan“ empfehlen.
Er beschreibt darin sehr gut die zwar weit verbreiteten aber leider auch oft falschen Sichtweisen in den Bereichen Statistik und Wahrscheinlichkeiten. Nach dieser Lektüre wird es weit klarer, warum uns Dinge wie der Corona-Virus so heftig treffen.
MfG,
Stefan Wiedner