Auf einem für Geschichte der Logistikverbände in Österreich “historischem Boden” der Industriellenvereinigung trafen sich kürzlich “Entwicklungsväter” der Bundesvereinigung Logistik und ihre “Erben”. Tatsächlich haben viele der Workshops und Arbeitstreffen welche der formalen Vereinsgründung vorangegangen sind im traditionsstarken Haus am Schwarzenbergplatz stattgefunden.
Gemeinsam mit dem Verfasser dieses Beitrages waren zwei weitere “Männer der ersten Stunde” nämlich em. Univ.-Prof. Dr. Peter Faller (WUWien) und o. Univ.-Prof. Dr. Helmut Zsifkovits von der Montanuniversität Leoben präsent. Wenngleich in Wien viele Aktivitäten zu verzeichnen waren, lag in den “Vorgründungsjahren” die Federführung auch in der Steiermark. Die österreichische Akademie für Führungskräfte Graz im organisatorischen Bereich und die Montanuniversität Leoben (o. Univ.-Prof. Dr. Albert Oberhofer) war damals unsere “wissenschaftliche Heimat”. Vorbildlich war auch das Zusammenwirken mit der verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft unter deren Präsidenten Prof. Faller; sehr früh wurde ein gemeinsamer Arbeitskreis Logistik ins Leben gerufen, um die Kräfte in der überschaubaren Logistikgemeinde Österreich zu bündeln (die Vorbildwirkung auf die aktuelle Situation der Logistikverbände ist leider verblasst).
Eine wesentliche Rolle spielte von Anfang an die deutsche BVL. Mit ihren Publikationen und Forschungsarbeiten sowie professionellen Verbandsaktivitäten waren sie Vorbild und wertvoller Entwicklungspartner. Die daraus entstandene Kooperation, die ihren äußeren Ausdruck in der Umbenennung von “Institut für angewandte Logistik” zur BVL Österreich fand, war und ist wesentliche Erfolgsvoraussetzung. Als nach einer Vielzahl an informellen Veranstaltungen und Tagesseminaren am ÖAF der erste formale Logistikdialog am 9. und 10. Oktober 1984 in Wien stattfand, war ein Vertreter der BVL Deutschland, nämlich o. Univ.-Prof. Dr. HansChristian Pfohl von der TH Darmstadt einer der drei Schlüsselspieler neben den österreichischen Wissenschaftlern Faller und Oberhofer. Die Einführungsstatements wurden von zwei Repräsentanten der Montanuniversität (Dr. Bäck und Dr. Biedermann) sowie dem Schreiber dieser Zeilen abgegeben.
Die dynamische Entwicklung der Logistik als wissenschaftliche Disziplin, wesentliche betriebliche Querschnittsfunktion und damit Erfolgsvoraussetzung # 1 in vielen Unternehmen, sowie darüber hinaus auch Speerspitze des zukunftsgerichteten Wandels, lässt sich in fünf Phasen gliedern:
- die auslaufenden 70er und dann die 80er Jahre mit dem Fokus auf Rationalisierung und Produktivitätssteigerung
- die 90er Jahre mit der Zusammenführung der Logistik (aus ihrer “Keimzelle” Einkauf, Materialwirtschaft sowie Transport, Umschlag und Lager zu einer integrierten Kernfunktion) sowie dem Fokus auf den Zeitwettbewerb (“time based management”)
- die Jahrtausendwende und danach mit totaler Kundenorientierung (“die Logistik liefert, was das Marketing verspricht”) und daraus getriebener inner- und überbetrieblicher Prozessorientierung (business process reengineering, x-engineering). Das Supply Chain Management als höchste (vierte) Entwicklungsstufe der Logistik wird zu best practice und bestimmt zunehmend die Wettbewerbsfähigkeit
- die zentrale Erkenntnis, dass “collaboration” (Vertrauensorganisation der Logistikkette, Optimierung der Fertigungs- und Logistiktiefe), “advanced logistics partnership – alp” und daraus resultierende Netzwerkfähigkeit (unter Nutzung der Informatik als “enabler”) einer reinen Maximierung des Nutzens für das eigene Unternehmen in der Logistikkette häufig überlegen ist, beschäftigt die Logistik nach der Jahrtausendwende
- das aktuelle “v u k a – szenario” (volatile, unsichere, komplexe, ambivalente Rahmenbedingungen) fordert einen wiederum erweiterten und veränderten Fokus der Logistik auf Agilität (gleichzeitig robuste Prozesse, hohe Resilienz und die Fähigkeit zu proaktivem Handeln!)
Dazu nachstehend einige wenige (aus vielen dutzend möglichen) Meilensteine und die eine oder andere dazu passende Anekdote aus dem Engagement der BVL:
Die ersten internationalen Studien zum Produktivitätspotential durch systematische Logistikaktivitäten wurden 1978/79 in und für Nordamerika erarbeitet und erregten große Aufmerksamkeit. Führende europäische Logistikverbände folgten ab 1980, wobei sich der Beratungskonzern AT Kearney Verdienste um die Logistik erwor-ben hat. Auf den Punkt gebracht wurden die Ergebnisse im “magischen Zieldreieck“ der Logistik: Qualität (gemessen an der Lieferzuverlässigkeit), Zeit (Durchlauzeit) und Kosten (abgeleitet von der Kennzahl Anteil der Logistikkosten am Umsatz). Aus heutiger Perspektive ist es unglaublich, was die erste Studie erbrachte: Durchlaufzeiten gemessen in Monaten! Anteil der Logistikkosten im Handel bis zu 50 %, in der Industrie bis zu 25 %, Servicegrad um inferiore 85 %! Nichts kann den furiosen Siegeszug der Logistik besser beschreiben als aktuelle benchmarks: Durchlaufzeiten in einem “just-in-sequence-orientierten Unternehmen” betragen Stunden; vor wenigen Jahren hat ein Gewinner des renommierten Logistikpreises der deutschen BVL (der Maschinenbauspezialist Gildemeister) die Schallmauer von 10 % Logistikkosten vom Umsatz nach unten durchbrochen; und nach Six-Sigma-Prinzipien gesteuerte Unternehmen streben einen level of service von 99,9 % an.
Schon beim 1. Logistikdialog beschäftigte sich daher o. Univ.-Prof. Wiendahl (TU Hannover) mit Logistikkennzahlen. Beim 3. Logistikdialog definierte o. Univ.-Prof. Weber (Uni Konstanz und heute unumstrittener Nestor des Logistikcontrollings) die Standards für eine Logistikkostenrechnung, welche Controller und Logistiker zu einem Quantensprung in ihren gemeinsamen Steuerungssystemen stimulierte.
Auch um die Lehre konnte sich die BVL verdient machen. Der Lehrkörper an den FH Eisenstadt und Wiener Neustadt setzte sich vorrangig aus Mitgliedern des BVL-Vorstandes und -präsidiums zusammen. An der WU-Wien konnte verhindert werden, dass der Rektor (und Informatikprofessor) o. Univ.-Prof. Dr. Hansen einen weiteren (dritten) Informatik-Lehrstuhl einrichtete, stattdessen wurde der traditionelle (auf den legendären o. Univ.-Prof. Dr. Karl Lechner zurückzuführende) und renommierte Lehrstuhl für Transportwirtschaft nach der Emeritierung Prof. Fallers nachbesetzt. An der Donauuniversität Krems war der Verfasser mit der Initiative zu einem Logistik-MBA (nach den internationalen Maßstäben des “european board for logistics education”) erfolgreich.
Das dominierende Thema vom 1. bis zum 6. Logistikdialog war “just in time”. Der Zeitwettbewerb rückte ins zentrale Augenmerk. Die Richtung des Materialflusses wurde von Druck auf Zug (Paradigmenwandel von “push“ auf „pull”) umgedreht. Die Information begleitete nicht mehr die Produktionsprozesse, sondern sie übernahm eine gestaltende ziehende Rolle; “kanban” wurde zum Faszinosum. Erfinder war Toyota, deren Fertigungssystem (“toyota production system TPS”) galt und gilt auch noch heute weltweit als best practice. Die japanischen (ursprünglich auf das amerikanische “continuous improvement” nach Crosby und Juran zurückgehenden) TQMKonzepte “kaizen” und “gemba kaizen” erlangten Kultstatus.
Die Überlegenheit des “japanischen Systems” wurde in der Fünf-Jahresstudie des MIT über die Wettbewerbsverhältnisse in der internationalen Automobilindustrie “The machine that changed the World“ (Womack und Jones 1990) dargestellt. Schlussfolgerung: ohne radikale Änderungen durch Einführung von “lean management” seien die europäische und nordamerikanische Automobilindustrie Todeskandidaten. Eine Reaktion in Europa war der “Lopezismus”. Beides zentrale Themen in den Veranstaltungen der BVL.
Eine Revolution für die Logistik lösten die Arbeiten von Hammer und Champy (reengineering the corporation, 1993) aus, sie fordern eine Radikalkur für Unternehmen zur Überwindung der bürokratisch-funktionalen Organisation durch radikale Prozessorientierung, deren initialer Auslöser und ultimativer Endpunkt der Kunde zu sein hat. Erweitert wird dies durch Champy, der in „xengineering the company“ 2002 darauf hinwies, dass eine Gestaltung der eigenen Prozesse eines Unternehmens wesentlich geringeres Erfolgspotential darstellt, als es eine Verzahnung der eigenen mit den Prozessen der Unternehmen, mit denen man in der Logistikkette verbunden ist, zu leisten imstand ist.
Legendär die “3 C der business-process optimization” nach Hammer und Champy:
- customer takes charge
- competition intensifies
- change becomes the only constant.
Als Auslöser für die Durchsetzung von Supply Chain Management als höchste Entwicklungsstufe der Logistik, ergänzt von Champy um das 4. “C” des “x-engineering”: collaboration is the corner stone for shared processes.
Höchste Beachtung und Umsetzung in der BVL fanden vor allem das “Prozesskettenmodell der Logistik” von o. Univ. Prof. Baumgarten (TU Berlin und BVL Deutschland) sowie das “3 Säulen Konzept des Supply Chain Management“ von Kuhn/Hellingrath. Unerklärbarer Weise noch immer nicht zum eigentlich zu erwarte-ten Erfolg hat es das Referenzmodell SCOR des US-amerikanischen supply chain council (mit vielen Fortune 500 Mitgliedern) gebracht. Dies obwohl es ein schlüssiges Konzept zur Implementierung von SCM ist und darüber hinaus ein benchmarking der Logistikprozesse ermöglicht. Mutige und konsequente Anwender (wie z.B. die Zahnradfabrik Friedrichshafen bei einem Vortrag am Logistikdialog belegen konnte) erzielen jedoch fulminante Erfolge.
Bahnbrechend am baumgartenschen Prozesskettenmodell war auch die Einbindung der Kreislaufwirtschaft in den Rücklauf („reverse logistics“, „closed loop engineering“). Schon bei einem sehr frühen Logistikdialog wurde die Bezeichnung „Ökologistik“ mit der Zielsetzung, Wirtschaftswachstum und Umweltverzehr zu entkoppeln, eingeführt und besetzt. In den letzten Jahren hat die BVL verschiedene Grünbücher zu ökologischen Grundsatzthemen vorgelegt, die alle hohe Beachtung fanden. Der jährlich am Logistikdialog verliehene gemeinsame „Nachhaltigkeitspreis Logistik von BVL Österreich und Deutschland“, bei dem Österreich federführend wirkt, unterstreicht den hohen Stellenwert der Ökologie.
Im Jahre 2005 wurden die gewaltigen und bahnbrechenden Effekte von ECR (“efficient consumer response”) für den Einzelhandelskunden und alle Beteiligten an der Logistikkette dokumentiert. Der Servicegrad für den Endkunden (vor allem – aber nicht nur – in der Regalverfügbarkeit “out of stock”) wurde exorbitant gesteigert, Logistikosten und Bestände drastisch abgesenkt. Ergebnis einer kollaborativen Zusammenarbeit entlang der gesamten supply chain. In einem der höchstentwickelten Bereiche von ECR, nämlich CPFR (“collaborative planning and forecasting replenishment”) liegt die Wurzel des Erfolgs im gemeinsamen Verarbeiten von Bestands- und Verkaufsdaten zwischen Lieferant und Endverkauf! Schlagender Beweis für eine zentrale These der Digitalisierung: Informationen werden nicht wertvoller, wenn man sie schützt, sondern wenn man sie mit Partnern in Wertschöpfungsnetzwerken teilt.
Wir in der BVL haben uns bereits um die Jahrtausendwende mit den Herausforderungen der sich abzeichnenden Netzwerkgesellschaft intensiv beschäftigt und dazu ein Thesenpapier erarbeitet und breit publiziert. Legendär ein Logistikdialog mit der damaligen Verkehrsministerin Dr. Monika Forstinger. Unser mutiges und innovatives Bekenntnis zu einer Vertrauensorganisation machte Furore. Die Zitate: „Kontrolle ist teuer und langsam, Vertrauen schafft Vertrauen” schaffte es auf die Titelseiten des Wirtschaftsteils sowohl von Presse als auch Standard (eine bisher nie mehr getoppte Medienressonanz).
Auch für die Einbindung der Logistikdienstleister in den Exclusivclub zwischen FMCG-Produzenten und Handel konnte die BVL nützliche Dienste als sounding board leisten.
Die aktuelle Bewährungsprobe für Logistik und Supply Chain Management misst sich an deren Beitrag zur Bewältigung des aktuellen Szenarios aus:
V olatilität (in der Supply Chain z.B. bei Rohstoffpreisen, zunehmende politischer Unsicherheit im Weltwirtschaftsgefüge und Risiken durch Naturkatastrophen)
U nsicherheit (z.B. durch unbeständiges Geschäftsfeld und undurchsichtige Wirkzusammenhänge sowie ungewisse Entwicklungen)
K omplexität (z.B. in den Handelsstrukturen, durch Produkt- und Variantenvielfalt)
A mbivalenz (z.B. im Ausbalancieren ökonomischer und ökologischer Anforderungen).
Zukunftssicherheit kann immer weniger durch verbesserte Planung erlangt werden, Agillität, Robustheit und Resilienz sind gefragt. Dies stellt die zukünftigen neuen Herausforderungen für Logistik und Supply Chain Management neben dem Erhalt des Erreichten dar. Die Anforderungen an die Fachkompetenzen der Logistiker werden genauso sprunghaft steigen wie an die Fähigkeit zu change management und auch zu digital leadership in exzellenten Unternehmen.
Ein attraktives, breites und dringend benötigtes Betätigungsfeld für die BVL wird auch die nächsten Jahrzehnte prägen. Höchste Anerkennung ist sowohl den ehrenamtlich tätigen Funktionären der BVL als auch den weit über das Erwartbare hinaus engagierten hauptberuflichen Mitarbeitern zu zollen. Diese werden wie schon in der Vergangenheit auch in Zukunft der BVL weiterhin ermöglichen, ihr unersetzbares Wirken für die österreichische Wirtschaft und die darin tätigen Logistiker ohne Förderungen durch die öffentliche Hand einzubringen.
Erschienen in der Österreichischen Zeitung für Verkehrswissenschaften, Ausgabe ÖZV 1/2020
Ein sehr gelungener Artikel der die gewaltige Entwicklung der Logistik seit den 70-iger Jahren bis heute in einer sehr klaren und gut verständlichen Sprache darlegt. Nachdem ich selbst Mitte der 80-iger Jahre in die Logistik eingestiegen bin, habe ich das Meiste davon auch persönlich miterlebt und möchte dem Autor zu der gelungenen Expertise beglückwünschen – soviel „Geschichte“ in relativer knapper Art und Weise wiederzugeben ist eine spezielle Kunst und daran merkt man auch das starke Logistik-Herz des Autors, der nicht Journalist ist, sondern aktiv Mitgestaltender.
Jetzt ist es mindestens genauso wichtig, dass in der Logistik noch viel stärker (wie es andere Branchen bereits vorgemacht haben) die enormen Möglichkeiten „Jetzt“ und in der Zukunft der IT-Technologie (Digialisierung, AI, machine learning, Robotics, etc. ) nützt. Die Zukunft wird von noch viel rascheren Veränderungen gekennzeichnet sein, welche vorallem durch die Technik und dem Schutz der Umwelt (Klimadebatte) getrieben sein wird.
Das Einzig beständige ist der Wandel und die Schnelleren fressen die Satten, egal wie groß diese heute sind.