Liberalisieren und privatisieren
Europas Güterbahnen können nur mit Verstärkung von Privatisierung und Liberalisierung überleben.

Die europäische Verkehrspolitik hat es aufgegeben, aktiv an einer – zumindest – Stabilisierung und noch weniger an einer Anhebung des Anteils der s chiene im m odalsplit gestaltend mitzuwirken. n icht nur deshalb, sondern vor allem auch weil zeitgemäßes Supply Chain Management wesentlich anspruchsvollere Anforderungen an seine Transport- und Logistikdienstleister stellt, liegt die Antwort auf die Überlebensfrage eines Schienengüterverkehrs in Europa abseits von „Rennstrecken“ (nordamerikanisches Modell) vor allem am Gestaltungswillen und an der Gestaltungsfähigkeit der EVU selbst. Von ebenfalls zentraler Bedeutung ist – primär bei den Staatsbahnen – die Bereitschaft der Eigentümer, betriebswirtschaftliche Führung zuzulassen und die Sanierung der Altlasten – Schulden, „sunk investments“, sozial verträglicher Abbau von wirtschaftlich nicht mehr vertretbarem Personalstand – sicherzustellen.
2010 lag der Anteil am Modalsplit der Schiene mit cirka 24 Prozent um elf Prozentpunkte unter dem zehn Jahre vorher selbst gesetzten Ziel von 35 Prozent. Verbesserte Interoperabilität, insbesondere durch technische Normierung, ist genauso eine Schimäre geblieben wie die europaweite Nachholung der Investitionsversäumnisse bei Infrastruktur und rollendem Material.
Passable Fortschritte gelangen nur bei der Öffnung des Marktes, nicht zuletzt wegen des Unternehmergeistes der privaten Anbieter. Längst kein Thema mehr ist die „Internalisierung der externen Kosten“, um Systemnachteile der Schiene – flächendeckendes Infrastrukturnutzungsentgelt versus punktuelle Bemautung etc. – wenigstens teilweise auszugleichen. Trotzdem hat man dem Güterverkehr auf der Schiene mit der bevorstehenden Zulassung von überlangen LKW, den sogenannten Gigalinern, einen weiteren Nackenschlag versetzt. Die österreichische Verkehrspolitik kann sich im europäischen Kontext durchaus zu den Musterschülern zählen. Sie hält immerhin noch den Anspruch aufrecht, ökologische Zielsetzungen beim Modalsplit zu verfolgen.
Nun zur Ausgangslage der staatlichen Güterbahnen. der Marktführer DB berichtet, dass er bereits wieder an die Werte vor der Krise herankommt. Auch die Meldungen von PKP, der Nummer Zwei im europäischen Markt, sich wieder in schwarzen Zahlen zu bewegen, finden einen Beleg in einer Personalstandsreduktion, die an die 6000 Personen umfasst haben soll. Der Rest, insbesondere die zentral- und osteuropäischen Staatsbahnen, ist zum größten Teil in einer kritischen bis bedrohlichen Lage. Wie nachhaltig der kolportierte Break-Even bei der RCA sein kann, wird man wohl erst im Vergleich der für heuer zu legenden Bilanz mit jener des Folgejahres 2013 bewerten können.
Für alle Güterbahnen gilt die unveränderte Faustformel, dass etwa die Hälfte aller transportierten Waggons, sei es in Ganzzügen, Waggongruppen oder intermodal, zumindest zu Beginn oder am Ende der Transportkette einmal Einzelwaggon ist. Das umschreibt die hohe Abhängigkeit aller Anbieter von Schienenlogistikleistungen von diesem – möglichst flächendeckenden – System.
Die vom vorvorletzten RCA-Vorstand mit Verve unterstützte X-Rail-Initiative führender, vor allem zentraleuropäischer Güterbahnen zur Heranführung des Einzelwagenverkehrs an die Logistikleistungsfähigkeit von LKW-basierenden Spediteursnetzwerken war also strategisch fundiert. Leider hat der zwischenzeitlich eingetretene radikale Rückzug der italienischen und der französischen Güterbahnen aus dem weitgehend flächendeckenden Einzelwagensystem die gesamteuropäische Dimension stark abgeschwächt.
Nur der Wettkampf um bessere kundenspezifische Lösungen kann den Marktanteil der Schiene stabilisieren und steigern
Hinsichtlich der Auswirkungen des schon durchgeführten oder geplanten Rückzugs der RCA aus der Fläche kann mangels abschließender Gesamtschau nur spekuliert werden. Man kann den Verantwortlichen dabei nur eine gute Hand wünschen und dass das zukünftige Netz der RCA rasch genug das – bei vielen angeschlagene – Vertrauen der verladenden Wirtschaft wieder gewinnt. Alle Privat- und Staatsbahnen müssen lernen, dass sowohl vertikale, als auch horizontale Kooperationen untereinander den Schlüssel im Kampf um den Modalsplit gegen die Straße darstellen.

Es zeigen sich Tendenzen – etwa in öffentlichen gemeinsamen Meinungsäußerungen des DB und des SNCF CEO -, auf die Herausforderung der Zukunft mit einem Rückfall auf das seinerzeitige Agieren als Staatsmonopolist zu antworten. Die beiden Herren plädieren offensichtlich vehement – entgegen den eindeutigen Vorgaben der europäischen Eisenbahn- Gesetzgebung – dafür, als sogenannte „integrierte Unternehmen“ zu agieren und die Trennung von Absatz- und Infrastrukturbereich zugunsten ihrer Güterverkehrsbereiche zurückzunehmen.
Dem geballten und ungewöhnlicherweise akkordierten Agieren Deutschlands und Frankreichs scheint Verkehrskommissar Siim Kallas willfährig nachzugeben. Die scharfe Trennung von Infratruktur und Betrieb soll aufgeweicht werden. Bleibt zu hoffen, dass die angekündigte scharfe gesetzliche Regelung zur Sicherung der unabhängigen Bahninfrastruktur kein zahnloser Tiger wird, der in der Brüsseler Bürokratie vor sich hin schnurrt.
In diesem Zusammenhang wäre wohl auch zu hinterfragen, wie weit die Konzernpolitik der ÖBB es mit dieser Gretchenfrage hält. Die beabsichtigte Zurücknahme der Liberalisierung wäre also mit Sicherheit der verkehrte Weg. Dem Gesamtsystem Bahn – sowohl privaten als auch öffentlichen Marktteilnehmern – kann es nämlich nur dann wieder besser gehen, wenn Wettbewerb auf Augenhöhe mit gleichen Zugriffsmöglichkeiten auf alle Ressourcen – wie es ja auch der „diskriminierungsfreie Zugang“ vorsieht – geschieht. Nur der Wettkampf um die bessere kundenspezifische Lösung vieler, vor allem privatwirtschaftlich innovativer und kundengetriebener Unternehmen kann den Marktanteil der Schiene zunächst stabilisieren und dann auch wieder steigern. Auch die Einsicht, dass manche kundenspezifische Lösung in Kol laboration unterschiedlicher Marktteilnehmer besser und günstiger für den Endkunden erbracht werden kann, sollte bei den einstigen Staatsmonopolisten Raum greifen.
Gerade bei den ÖBB ist darauf hinzuweisen, dass diese – anders als die meisten neu strukturierten Staatsbahnen, insbesonders auch die DB – nicht „entschuldet“ wurden. Der oben schon einmal angesprochene vorvorletzte RCA-Vorstand hat als Ausweg aus diesem Dilemma Überlegungen angestellt, mit einem r estrukturierungskozept nach Brüssel zu gehen und dort die notwendigen Einmalkosten für eine radikale Umstrukturierung der RCA genehmigt zu erhalten. Ein derartiges Konzept wurde von der belgischen Staatsbahn SNCB erfolgreich beantragt, wobei allerdings vieles dafür spricht, dass die Umsetzung gefährdet zu sein scheint.
Dieser Ansatz fand allerdings seinerzeit weder beim Ministerium noch in der ÖBB Holding Unterstützung und konnte daher nicht weiterverfolgt werden. Nach Ansicht des Verfassers wäre unter den heutigen Umständen und Gegebenheiten die Hereinnahme eines strategischen Partners sinnvoll, der sicherstellt, dass alle Verträge der RCA mit den übrigen Unternehmen des ÖBB-Konzerns on armslength distance sind und politische oder sonstige Eingriffe in die Führung des Unternehmens unterbleiben. Der zukünftige Königsweg für europäische Güterverkehrsbahnen muss auf zwei Gleisen laufen: auf einer radikalen Neustrukturierung und zumindest teilweisen Privatisierung und auf einer Fortführung und Verstärkung von Liberalisierung und Privatisierung.